Warum du deine Probleme nicht „loslassen“ kannst!

 

„Wer loszulassen vermag,
siegt noch, wo er aufgibt.

Peter Rudl

„Loslassen ist die Kunst, Vergangenes zur Ruhe zu betten
und der Zukunft freien Raum zur Gestaltung zu überlassen.“
Helga Schäferling

„An etwas festzuhalten, was nicht festhaltenswert ist,
ist nicht nur sinnlos sondern auch dämlich.“
Damaris Wieser

„Wahre Liebe ist Loszulassen, wenn die andere Person
einen nicht mehr liebt, besonders dann, wenn man weiß,
daß in diesem Moment des Loslassens ein Teil Glück, Liebe,
Hoffnung und vor allem Zuversicht in einem selbst stirbt.“
Sascha Spät

„AaaarrrrgGHHH!“
Volker Schmidt

Warum du deine Probleme nicht „loslassen“ kannst!

Und sie niemals wirst „loslassen“ können!

Ein furchtbares Gift schleicht sich durch die Psycho-Szene. Ein hochwirksames Psychotoxin, so perfide gestaltet, dass Heerscharen wohlmeinender Therapeuten und Coaches es Tag für Tag, in solidem Glauben an seine Heilkraft, ihren Klienten verabreichen. Niemand weiß genau, wer es zuerst in Umlauf gebracht hat. Längst jedoch hat es, ob seiner Einfachheit und eingängigen Metaphorik, den Sprung in die Küchenpsychologie geschafft, wo Herzens-Freunde und -Freundinnen es besten Gewissens ihren leidenden Liebsten ins Herz träufeln. Und sich allzuoft wundern, wieso diese Menschen nicht nur nicht spontan gesunden, sondern in aller Regel nur noch schwächer und verzweifelter werden…

Die Formel dieses Gifts lautet: „Du musst einfach nur loslassen…!“

Was soll das? Warum schimpfe ich derart rüde gegen diese gut gemeinte Botschaft? Ich muss sie ja nicht mögen, aber ist das ein Grund, gleich so aufzubrausend zu werden?

Für mich ist es das. Denn es ist leider nicht so, dass die Floskel des „Loslassens“ einfach nur ein wenig am Kern der Sache vorbei geht und daher schlicht therapeutisch unwirksam wäre. Genau das ist sie gerade nicht. Sie ist hochwirksam, allerdings vollkommen anders, als wir es uns voraussichtlich wünschen.

Gefährlicher als die Lüge ist die Halbwahrheit!

Die Metaphorik der Loslassensprediger*innen dieser Welt besagt:

„Dein Problem ist nur darum ein Problem, weil du es dir zu einem Problem machst. Du hältst an einer Vorstellung fest, wie die Welt in deinen Augen zu sein hätte. Die Welt aber hält sich nicht an deinen Plan. Du hältst an etwas fest, das nicht real ist, eine Erinnerung vielleicht oder Sehnsucht, ein Wunsch oder eine Angst. Darum leidest du.“

„Lass das,“, sagen sie, „was du so verbissen festhältst, los, und du wirst frei sein!“

Das ist ja alles nicht ganz falsch. Es ist nur auch nicht ganz richtig. Es stimmt, dass ein Großteil unseres Leidens dadurch entsteht, dass unsere Wünsche oder Erwartungen nicht mit der tatsächlichen Realität übereinstimmen. Außerdem stimmt es, dass jeder Mensch in der Lage ist (je nach Übung mehr oder weniger), Einfluss zu nehmen auf seine innerpsychischen Prozesse. Also: Gedanken und Gefühle. Der Rückschluss jedoch, dass das „Loslassen“ unserer Vorstellungen, Interpretationen, Erwartungen, Ängste oder Wünsche unsere Probleme lösen würde, basiert meiner festen Überzeugung nach auf ein paar groben Nachdenkfehlern. Nachdenkfehlern leider jedoch, die Folgen haben.

Im Herzen jeder Sehnsucht steckt ein unerfülltes Bedürfnis.

Wir Menschen haben Bedürfnisse, nicht nur physischer, sondern auch psychischer Natur. Ich glaube, wir alle haben dieselben körperlichen wie psychischen Bedürfnisse, wenngleich von Person zu Person und Tag zu Tag vielleicht in unterschiedlicher Stärke.

Die Namen unserer psychischen Bedürfnisse lauten in meiner Nomenklatur: Wohlbefinden, Sicherheit, Leichtigkeit, Orientierung, Wirksamkeit, Freiheit, Intensität, Entwicklung, Gemeinschaft, Anerkennung, Gerechtigkeit, Verbundenheit, Selbsterkenntnis, Sinn, Integrität und Selbstentfaltung.

Ist eines oder sind mehrere dieser Bedürfnisse akut oder oder gar chronisch unterversorgt (Was in meinen Augen bei den allermeisten Menschen in unserer Kultur in der überwiegenden Mehrheit ihrer Lebenszeit der Fall ist), dann entsteht ein Mangel, den wir als psychischen Schmerz wahrnehmen.

Je länger dieser Mangel anhält übrigens und je mehr unterschiedliche Grundbedürfnisse betroffen sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Depression, Sucht oder anderen Kompensationsstrategien des Systems.

Wenn unserem Körper Magnesium fehlt oder unserer Psyche Orientierung, dann hilft es weder dem einen noch der anderen, wenn wir versuchen, uns einzureden, der Mangel wäre nicht da. Im Gegenteil: Die Loslassensmetaphorik hält uns geradezu davon ab, hinzuschauen, was genau uns fehlt. Und uns die Frage zu stellen, wo wir finden könnten, was fehlt. Sind Grundbedürfnisse körperlicher oder psychischer Art unerfüllt, macht der Imperativ des „Loslassens“ uns nicht nur nicht stärker, sondern lädt uns geradezu ein zur Selbstverneinung und emotionalen Selbstverstümmelung.

Es bist nicht du, der/die festhält!

Hast du schon mal einem Menschen gesagt: „Lass doch los…!“? Was hat er oder sie dir geantwortet? Wenn nicht in Worten, dann haben dir höchstwahrscheinlich seine Augen unmissverständlich gesagt: „Ich würde ja gerne! Wirklich! Aber ich kann nicht! Ich weiß nicht, wie!“

Ich betrachte die menschliche Psyche nicht als Singular, sondern als Plural. Jeden deiner Gedanken und jedes deiner Gefühle kannst du, wenn du dich darin übst, auf einen ganz spezifischen Anteil deiner selbst zurückverfolgen. Und nun stell dir vor: Der Teil deiner Psyche, der leidet, ist ein anderer als derjenige, der rational feststellt, dass das Leiden objektiv betrachtet nicht zwingend notwendig wäre. Und noch ein dritter ist es, der in deinem Kopf daraus die klagende Schlussfolgerung zieht: „Wir selbst sind schuld!“

Führt das dazu, dass das Leiden in uns Linderung erfährt? Ich glaube, nicht.

Ich glaube, es führt dazu, dass die Instanz in uns, die leidet, nicht weniger leidet als vorher, sondern mehr. Denn nun addiert sich zu dem bereits zuvor empfundenen Mangel die Last der Schuld für dieses eigene Leiden.

In der Folge zieht sich der angeklagte und verurteilte Anteil in uns zurück in das Unterbewusstsein, wirkt von dort aus allerdings nicht weniger weiter. Nun jedoch aus dem Verborgenen und mit sehr machtvollen Werkzeugen.

Stellen wir uns vor, ein unsichtbares, unglückliches und zudem ausgegrenztes Kind hätte Zugang zu einem Arsenal an High-Tech-Werkzeugen. Was würde dieses unsichtbare, unglückliche und ausgegrenzte Kind wohl mit diesen Werkzeugen tun? Sicher nichts Gutes.

Es ist übrigens sogar möglich, jenen „inneren Kindern“ in uns ein „gefühltes Alter“ zuzumessen. Und es ist überdies überaus nützlich! Denn ein 3-jähriges Ich leidet anders als ein 6-jähriges, ein 11-jähiges anders als ein 17-jähriges. Und nicht nur das. Sie alle leiden nicht nur unter unterschiedlichen Dingen und auf unterschiedliche Weisen. Sie reagieren auch sehr verschiedenartig darauf, mit welchen Worten oder welchem Tonfall wir sie ansprechen.

Unabhängig von diesem „inneren Alter“ jedoch: Jeder Teil in uns, der akut oder chronisch leidet, sehnt sich nach Mitgefühl und der Erfahrung, in seinem Leiden angenommen und willkommen zu sein, statt hässlich, dumm und unbeliebt.

Annehmen, was ist, wie es ist!

Deine Wünsche und Sehnsüchte, deine Ängste und Traumen, dein Schmerz und deine Gefühle gehören nicht dir, sondern jenen oben besprochenen inneren Anteilen in deiner Psyche. Nichts von all dem kannst du daher „loslassen“. Genauso wenig wie die Tatsache, dass gewisse Bedürfnisse oder Wünsche, und seien sie noch so dringend und wichtig, möglicherweise akut oder chronisch nicht erfüllt sind.

Du kannst weder den Wunsch loslassen, zu wissen, was du „nur tun müsstest“, damit deine Wünsche in Erfüllung gehen. Noch die Tatsache, dass du es ganz offenbar bislang noch nicht herausgefunden hast. Nicht von all dem kannst du loslassen. Was du jedoch tun oder lernen kannst, ist die Dinge als das anzunehmen, was sie sind.

Das, was gerade ist, ist so, wie es ist, unabhängig davon, was ich davon halte. Das gilt nicht nur für unsere Umwelt, sondern auch für das Innenleben unserer Psyche. Ich kann mich unmöglich zwingen dazu (und auch niemanden sonst), etwas zu wollen, wonach es in mir (oder ihm/ihr) kein Verlangen gibt. Ich kann mich unmöglich (und auch niemanden sonst) zwingen dazu, mit etwas zufrieden zu sein, das in meiner Psyche mehr Frustration als Freude erzeugt. Versuche es! Ich sage, es ist unmöglich.

Was jedoch möglich ist (oder zumindest definitiv lernbar), ist die Dinge anzunehmen als das, was sie sind. Und zwar sowohl den Wunsch als auch den Umstand seiner Unerfülltheit. Sowohl die Angst als auch die Erkenntnis ihrer Irrationalität. Sowohl den Liebeskummer als auch das Wissen darum, dass jedes Gefühl naturgemäß zeitlich befristet ist.

Beistand transformiert.

Wir können nicht loslassen. Was wir jedoch (lernen) können, ist annehmen. Die Kraft, die uns dabei behilflich ist, heißt Traurigkeit.

In der Traurigkeit fühlen wir uns schwach, verletzlich und bedürftig nach emotionaler und physischer Nähe. Wenn wir diese finden, können wir uns erlauben, dem leidenden Teil in uns in geschütztem Rahmen (z.B. in den Armen einer Freundin oder während einer therapeutischen Sitzung) Raum zu geben. Vielleicht weinen wir. Vielleicht sind wir ganz still. Vielleicht kauern oder rollen wir uns ganz klein zusammen, fast so wie ein Baby im Bauch.

Wenn wir in dieser erschütternden Konfrontation mit unserem Unvermögen und unserer Zerbrechlichkeit nicht allein sind, sondern einen Menschen an unserer Seite spüren, der uns in diesem Schmerz (scheißegal, wie irrational er auch sein mag!) annehmen und halten kann, dann macht der leidende Teil in uns Erfahrungen, die nachhaltig positiv therapeutisch wirksam sind.

„Beistand geben“ bedeutet nicht, „dazusein und nichts zu tun“. „Beistand geben“ bedeutet, einem Menschen in einer schwierigen Situation Aufmerksamkeit und echtes Mitgefühl zu schenken. Diese Fähigkeit haben manche Menschen in ihrem Leben nie gelernt, vermutlich oft, weil es in ihrem Umfeld schlicht niemanden gab, der ihnen nahe brachte (oder überhaupt selbst wusste), wie wichtig und bedeutsam das gegenseitige Schenken von Beistand für den Erhalt und das Gedeihen einer Gemeinschaft und aller ihrer Bestandteile ist.

Schmerz annehmen heißt Lebendigkeit annehmen!

Wollen wir unser eigenes Leiden oder das Leiden eines anderen Menschen lindern, dann ist der Imperativ des Loslassens ein Werkzeug, dass wir meiner Auffassung nach schleunigst und gründlich einmotten sollten.

Wenn wir uns bewusst werden, dass wir selbst oder ein geliebter Mitmensch durch eine Lebensphase geht, in der es darum geht, Dinge, die nicht so sind, wie gewünscht, so anzunehmen, wie sie sind, dann bekommen wir vielleicht eine Ahnung davon, mit wie viel Widerstand wir es dabei in unserem Inneren oder dem unseres Gegenübers zu tun haben oder bekommen werden. Die Trauer des Annehmens ist manchmal ein zäher und kraftraubender Prozess.

Noch einmal, um es zu unterstreichen: Das bedeutet nicht, nicht, nicht, auch nur eines unserer Gefühle oder einen unserer Gedanken wegzudrücken. Sie sind eh da. Ob wir sie nun sehen wollen oder nicht. Und wie oben erläutert, gehören sie uns nicht. Auch unsere Gedanken und Gefühle gehören zu den Dingen, die wir annehmen können und dürfen. Sie zeigen uns lediglich, was in unserer Psyche vor sich geht. Darüberhinaus hat keiner unserer Gedanken und auch keines unserer Gefühle Handlungsvollmachten über unser Tun. (Es sei denn natürlich, wir verleihen ihnen diese!)

Die Tatsache, dass wir aktuell gerade nichts zur Lösung unserer Probleme (oder derjenigen eines geliebten Menschen) beitragen können oder wollen (!), bedeutet nicht im Geringsten, dass wir nichts tun könnten, das einen Unterschied macht! Beistand hat eine transformative Kraft, die ich selbst ein Leben lang unterschätzt hatte, bis eines Tages alle anderen Werkzeuge versagten und Beistand das einzige war, das ich geben konnte. Seither möchte ich dieses Werkzeug der Psychohygiene nicht mehr missen.

Lernen wir, uns selbst (unseren inneren Instanzen) und einander Beistand zu schenken. Schenken wir uns selbst und einander die Erfahrung, in unserem Leid nicht allein zu sein!

All jenen Menschen, die gerade Leid empfinden (sei dies plausibel oder rational), wünsche ich, dass sie Menschen finden, die ihnen nicht (mehr) sagen: „Lass doch einfach los!“, sondern: „Du bist nicht allein! Ich stehe dir bei!“

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