Warum du deine Probleme nicht „loslassen“ kannst!

 

„Wer loszulassen vermag,
siegt noch, wo er aufgibt.

Peter Rudl

„Loslassen ist die Kunst, Vergangenes zur Ruhe zu betten
und der Zukunft freien Raum zur Gestaltung zu überlassen.“
Helga Schäferling

„An etwas festzuhalten, was nicht festhaltenswert ist,
ist nicht nur sinnlos sondern auch dämlich.“
Damaris Wieser

„Wahre Liebe ist Loszulassen, wenn die andere Person
einen nicht mehr liebt, besonders dann, wenn man weiß,
daß in diesem Moment des Loslassens ein Teil Glück, Liebe,
Hoffnung und vor allem Zuversicht in einem selbst stirbt.“
Sascha Spät

„AaaarrrrgGHHH!“
Volker Schmidt

Warum du deine Probleme nicht „loslassen“ kannst!

Und sie niemals wirst „loslassen“ können!

Ein furchtbares Gift schleicht sich durch die Psycho-Szene. Ein hochwirksames Psychotoxin, so perfide gestaltet, dass Heerscharen wohlmeinender Therapeuten und Coaches es Tag für Tag, in solidem Glauben an seine Heilkraft, ihren Klienten verabreichen. Niemand weiß genau, wer es zuerst in Umlauf gebracht hat. Längst jedoch hat es, ob seiner Einfachheit und eingängigen Metaphorik, den Sprung in die Küchenpsychologie geschafft, wo Herzens-Freunde und -Freundinnen es besten Gewissens ihren leidenden Liebsten ins Herz träufeln. Und sich allzuoft wundern, wieso diese Menschen nicht nur nicht spontan gesunden, sondern in aller Regel nur noch schwächer und verzweifelter werden…

Die Formel dieses Gifts lautet: „Du musst einfach nur loslassen…!“

Was soll das? Warum schimpfe ich derart rüde gegen diese gut gemeinte Botschaft? Ich muss sie ja nicht mögen, aber ist das ein Grund, gleich so aufzubrausend zu werden?

Für mich ist es das. Denn es ist leider nicht so, dass die Floskel des „Loslassens“ einfach nur ein wenig am Kern der Sache vorbei geht und daher schlicht therapeutisch unwirksam wäre. Genau das ist sie gerade nicht. Sie ist hochwirksam, allerdings vollkommen anders, als wir es uns voraussichtlich wünschen.

Gefährlicher als die Lüge ist die Halbwahrheit!

Die Metaphorik der Loslassensprediger*innen dieser Welt besagt:

„Dein Problem ist nur darum ein Problem, weil du es dir zu einem Problem machst. Du hältst an einer Vorstellung fest, wie die Welt in deinen Augen zu sein hätte. Die Welt aber hält sich nicht an deinen Plan. Du hältst an etwas fest, das nicht real ist, eine Erinnerung vielleicht oder Sehnsucht, ein Wunsch oder eine Angst. Darum leidest du.“

„Lass das,“, sagen sie, „was du so verbissen festhältst, los, und du wirst frei sein!“

Das ist ja alles nicht ganz falsch. Es ist nur auch nicht ganz richtig. Es stimmt, dass ein Großteil unseres Leidens dadurch entsteht, dass unsere Wünsche oder Erwartungen nicht mit der tatsächlichen Realität übereinstimmen. Außerdem stimmt es, dass jeder Mensch in der Lage ist (je nach Übung mehr oder weniger), Einfluss zu nehmen auf seine innerpsychischen Prozesse. Also: Gedanken und Gefühle. Der Rückschluss jedoch, dass das „Loslassen“ unserer Vorstellungen, Interpretationen, Erwartungen, Ängste oder Wünsche unsere Probleme lösen würde, basiert meiner festen Überzeugung nach auf ein paar groben Nachdenkfehlern. Nachdenkfehlern leider jedoch, die Folgen haben.

Im Herzen jeder Sehnsucht steckt ein unerfülltes Bedürfnis.

Wir Menschen haben Bedürfnisse, nicht nur physischer, sondern auch psychischer Natur. Ich glaube, wir alle haben dieselben körperlichen wie psychischen Bedürfnisse, wenngleich von Person zu Person und Tag zu Tag vielleicht in unterschiedlicher Stärke.

Die Namen unserer psychischen Bedürfnisse lauten in meiner Nomenklatur: Wohlbefinden, Sicherheit, Leichtigkeit, Orientierung, Wirksamkeit, Freiheit, Intensität, Entwicklung, Gemeinschaft, Anerkennung, Gerechtigkeit, Verbundenheit, Selbsterkenntnis, Sinn, Integrität und Selbstentfaltung.

Ist eines oder sind mehrere dieser Bedürfnisse akut oder oder gar chronisch unterversorgt (Was in meinen Augen bei den allermeisten Menschen in unserer Kultur in der überwiegenden Mehrheit ihrer Lebenszeit der Fall ist), dann entsteht ein Mangel, den wir als psychischen Schmerz wahrnehmen.

Je länger dieser Mangel anhält übrigens und je mehr unterschiedliche Grundbedürfnisse betroffen sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Depression, Sucht oder anderen Kompensationsstrategien des Systems.

Wenn unserem Körper Magnesium fehlt oder unserer Psyche Orientierung, dann hilft es weder dem einen noch der anderen, wenn wir versuchen, uns einzureden, der Mangel wäre nicht da. Im Gegenteil: Die Loslassensmetaphorik hält uns geradezu davon ab, hinzuschauen, was genau uns fehlt. Und uns die Frage zu stellen, wo wir finden könnten, was fehlt. Sind Grundbedürfnisse körperlicher oder psychischer Art unerfüllt, macht der Imperativ des „Loslassens“ uns nicht nur nicht stärker, sondern lädt uns geradezu ein zur Selbstverneinung und emotionalen Selbstverstümmelung.

Es bist nicht du, der/die festhält!

Hast du schon mal einem Menschen gesagt: „Lass doch los…!“? Was hat er oder sie dir geantwortet? Wenn nicht in Worten, dann haben dir höchstwahrscheinlich seine Augen unmissverständlich gesagt: „Ich würde ja gerne! Wirklich! Aber ich kann nicht! Ich weiß nicht, wie!“

Ich betrachte die menschliche Psyche nicht als Singular, sondern als Plural. Jeden deiner Gedanken und jedes deiner Gefühle kannst du, wenn du dich darin übst, auf einen ganz spezifischen Anteil deiner selbst zurückverfolgen. Und nun stell dir vor: Der Teil deiner Psyche, der leidet, ist ein anderer als derjenige, der rational feststellt, dass das Leiden objektiv betrachtet nicht zwingend notwendig wäre. Und noch ein dritter ist es, der in deinem Kopf daraus die klagende Schlussfolgerung zieht: „Wir selbst sind schuld!“

Führt das dazu, dass das Leiden in uns Linderung erfährt? Ich glaube, nicht.

Ich glaube, es führt dazu, dass die Instanz in uns, die leidet, nicht weniger leidet als vorher, sondern mehr. Denn nun addiert sich zu dem bereits zuvor empfundenen Mangel die Last der Schuld für dieses eigene Leiden.

In der Folge zieht sich der angeklagte und verurteilte Anteil in uns zurück in das Unterbewusstsein, wirkt von dort aus allerdings nicht weniger weiter. Nun jedoch aus dem Verborgenen und mit sehr machtvollen Werkzeugen.

Stellen wir uns vor, ein unsichtbares, unglückliches und zudem ausgegrenztes Kind hätte Zugang zu einem Arsenal an High-Tech-Werkzeugen. Was würde dieses unsichtbare, unglückliche und ausgegrenzte Kind wohl mit diesen Werkzeugen tun? Sicher nichts Gutes.

Es ist übrigens sogar möglich, jenen „inneren Kindern“ in uns ein „gefühltes Alter“ zuzumessen. Und es ist überdies überaus nützlich! Denn ein 3-jähriges Ich leidet anders als ein 6-jähriges, ein 11-jähiges anders als ein 17-jähriges. Und nicht nur das. Sie alle leiden nicht nur unter unterschiedlichen Dingen und auf unterschiedliche Weisen. Sie reagieren auch sehr verschiedenartig darauf, mit welchen Worten oder welchem Tonfall wir sie ansprechen.

Unabhängig von diesem „inneren Alter“ jedoch: Jeder Teil in uns, der akut oder chronisch leidet, sehnt sich nach Mitgefühl und der Erfahrung, in seinem Leiden angenommen und willkommen zu sein, statt hässlich, dumm und unbeliebt.

Annehmen, was ist, wie es ist!

Deine Wünsche und Sehnsüchte, deine Ängste und Traumen, dein Schmerz und deine Gefühle gehören nicht dir, sondern jenen oben besprochenen inneren Anteilen in deiner Psyche. Nichts von all dem kannst du daher „loslassen“. Genauso wenig wie die Tatsache, dass gewisse Bedürfnisse oder Wünsche, und seien sie noch so dringend und wichtig, möglicherweise akut oder chronisch nicht erfüllt sind.

Du kannst weder den Wunsch loslassen, zu wissen, was du „nur tun müsstest“, damit deine Wünsche in Erfüllung gehen. Noch die Tatsache, dass du es ganz offenbar bislang noch nicht herausgefunden hast. Nicht von all dem kannst du loslassen. Was du jedoch tun oder lernen kannst, ist die Dinge als das anzunehmen, was sie sind.

Das, was gerade ist, ist so, wie es ist, unabhängig davon, was ich davon halte. Das gilt nicht nur für unsere Umwelt, sondern auch für das Innenleben unserer Psyche. Ich kann mich unmöglich zwingen dazu (und auch niemanden sonst), etwas zu wollen, wonach es in mir (oder ihm/ihr) kein Verlangen gibt. Ich kann mich unmöglich (und auch niemanden sonst) zwingen dazu, mit etwas zufrieden zu sein, das in meiner Psyche mehr Frustration als Freude erzeugt. Versuche es! Ich sage, es ist unmöglich.

Was jedoch möglich ist (oder zumindest definitiv lernbar), ist die Dinge anzunehmen als das, was sie sind. Und zwar sowohl den Wunsch als auch den Umstand seiner Unerfülltheit. Sowohl die Angst als auch die Erkenntnis ihrer Irrationalität. Sowohl den Liebeskummer als auch das Wissen darum, dass jedes Gefühl naturgemäß zeitlich befristet ist.

Beistand transformiert.

Wir können nicht loslassen. Was wir jedoch (lernen) können, ist annehmen. Die Kraft, die uns dabei behilflich ist, heißt Traurigkeit.

In der Traurigkeit fühlen wir uns schwach, verletzlich und bedürftig nach emotionaler und physischer Nähe. Wenn wir diese finden, können wir uns erlauben, dem leidenden Teil in uns in geschütztem Rahmen (z.B. in den Armen einer Freundin oder während einer therapeutischen Sitzung) Raum zu geben. Vielleicht weinen wir. Vielleicht sind wir ganz still. Vielleicht kauern oder rollen wir uns ganz klein zusammen, fast so wie ein Baby im Bauch.

Wenn wir in dieser erschütternden Konfrontation mit unserem Unvermögen und unserer Zerbrechlichkeit nicht allein sind, sondern einen Menschen an unserer Seite spüren, der uns in diesem Schmerz (scheißegal, wie irrational er auch sein mag!) annehmen und halten kann, dann macht der leidende Teil in uns Erfahrungen, die nachhaltig positiv therapeutisch wirksam sind.

„Beistand geben“ bedeutet nicht, „dazusein und nichts zu tun“. „Beistand geben“ bedeutet, einem Menschen in einer schwierigen Situation Aufmerksamkeit und echtes Mitgefühl zu schenken. Diese Fähigkeit haben manche Menschen in ihrem Leben nie gelernt, vermutlich oft, weil es in ihrem Umfeld schlicht niemanden gab, der ihnen nahe brachte (oder überhaupt selbst wusste), wie wichtig und bedeutsam das gegenseitige Schenken von Beistand für den Erhalt und das Gedeihen einer Gemeinschaft und aller ihrer Bestandteile ist.

Schmerz annehmen heißt Lebendigkeit annehmen!

Wollen wir unser eigenes Leiden oder das Leiden eines anderen Menschen lindern, dann ist der Imperativ des Loslassens ein Werkzeug, dass wir meiner Auffassung nach schleunigst und gründlich einmotten sollten.

Wenn wir uns bewusst werden, dass wir selbst oder ein geliebter Mitmensch durch eine Lebensphase geht, in der es darum geht, Dinge, die nicht so sind, wie gewünscht, so anzunehmen, wie sie sind, dann bekommen wir vielleicht eine Ahnung davon, mit wie viel Widerstand wir es dabei in unserem Inneren oder dem unseres Gegenübers zu tun haben oder bekommen werden. Die Trauer des Annehmens ist manchmal ein zäher und kraftraubender Prozess.

Noch einmal, um es zu unterstreichen: Das bedeutet nicht, nicht, nicht, auch nur eines unserer Gefühle oder einen unserer Gedanken wegzudrücken. Sie sind eh da. Ob wir sie nun sehen wollen oder nicht. Und wie oben erläutert, gehören sie uns nicht. Auch unsere Gedanken und Gefühle gehören zu den Dingen, die wir annehmen können und dürfen. Sie zeigen uns lediglich, was in unserer Psyche vor sich geht. Darüberhinaus hat keiner unserer Gedanken und auch keines unserer Gefühle Handlungsvollmachten über unser Tun. (Es sei denn natürlich, wir verleihen ihnen diese!)

Die Tatsache, dass wir aktuell gerade nichts zur Lösung unserer Probleme (oder derjenigen eines geliebten Menschen) beitragen können oder wollen (!), bedeutet nicht im Geringsten, dass wir nichts tun könnten, das einen Unterschied macht! Beistand hat eine transformative Kraft, die ich selbst ein Leben lang unterschätzt hatte, bis eines Tages alle anderen Werkzeuge versagten und Beistand das einzige war, das ich geben konnte. Seither möchte ich dieses Werkzeug der Psychohygiene nicht mehr missen.

Lernen wir, uns selbst (unseren inneren Instanzen) und einander Beistand zu schenken. Schenken wir uns selbst und einander die Erfahrung, in unserem Leid nicht allein zu sein!

All jenen Menschen, die gerade Leid empfinden (sei dies plausibel oder rational), wünsche ich, dass sie Menschen finden, die ihnen nicht (mehr) sagen: „Lass doch einfach los!“, sondern: „Du bist nicht allein! Ich stehe dir bei!“

*

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Die psychischen Grundbedürfnisse des Menschen

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Die psychischen Grundbedürfnisse des Menschen

„Die Zeit wird kommen, wo unsere Nachkommen sich wundern, dass wir so offenbare Dinge nicht gewusst haben.“
Lucius Annaeus Seneca (4 v. Chr – 65 n. Chr.)

Alles menschliche Streben beruht auf den Bedürfnissen unseres Körpers und unserer Psyche. Alle Ziele, die wir in unserem Tun verfolgen, und alle Sehnsüchte und Wünsche, die wir in uns hegen, basieren darauf, dass unser System aus Körper und Geist unablässig damit beschäftigt ist, bestmöglich dafür zu sorgen, dass unsere physischen wie psychischen Bedürfnisse erfüllt sind.

Je besser wir verstehen, wovon sich Körper und Psyche „ernähren“, desto klarer und bewusster können wir unser Leben so gestalten, dass unser Körper ebenso wie unsere Psyche möglichst gesund und möglichst geschmeidig bleiben.

Unter der Überschrift „In a nutshell“ fasse ich das in diesem Artikel beschriebene Verständnis unserer Psyche und ihrer Bedürfnisse auf den Punkt verdichtet in wenigen Worten zusammen. Diese radikale Kurzzusammenfassung ermöglicht ein rasches Verständnis über die stufenweise evolutionäre Entwicklung unserer psychischen Grundstrukturen sowie über die mit jedem Entwicklungsschritt unserer Psyche (und ihrer Fähigkeiten) neu entstehenden Bedürfnisse. Besonders erbaulich zu lesen allerdings ist dieser Einstieg nicht. Wer es nicht ganz so eilig hat, dem/der empfehle ich, diese Passage zu überspringen und zur Wiederholung und Vertiefung zum Abschluss der Lektüre zu nutzen.

Inhalt:

In a nutshell

Einleitung

Was sind Bedürfnisse?

Bedürfnisse des Körpers

Bedürfnisse der Psyche

Zwischenfazit

Bedürfnisse: Einige Worte zu Abraham Maslow

Unsere psychischen Grundbedürfnisse: 
Der Versuch einer alltagstauglichen Nomenklatur

Übersicht der psychischen Grundbedürfnisse des Menschen

In a nutshell

Neben den physischen Grundbedürfnissen nach materiellen und energetischen Ressourcen haben wir Menschen (und andere Lebewesen) weitere Bedürfnisse psychischer Natur.

Das Nahrungsfeld unserer Psyche ist nicht Materie oder Energie, sondern Information. Es handelt sich bei unseren psychischen Ressourcen daher um grundlegende Informationsstrukturen, welche ebenfalls evolutionär entstanden und bereits weit vor Erscheinen des Menschen ausgebildet wurden.

Stufe 0:
– Leben
Stufe 1:
– Sicherheit (Ich bin sicher.)
– Wohlbefinden (Es geht mir gut.)
– Leichtigkeit (Es ist leicht)
– Orientierung (Ich verstehe die Welt.)
Stufe 2:
– Freiheit (Ich kann tun, was ich will.)
– Wirksamkeit (Mein Tun verändert die Welt.)
– Intensität (Ich fühle mich lebendig.)
– Entwicklung (Ich entwickle mich weiter.)
Stufe 3:
– Zugehörigkeit (Ich bin Teil von etwas Größerem.)
– Anerkennung (Ich bin wertvoll für Andere.)
– Verbundenheit (Ich werde geliebt.)
– Augenhöhe (Ich achte, was ich bin.)
Stufe 4:
– Selbsterkenntnis (Ich kenne und liebe mich selbst.)
– Integrität (Ich handle im Einklang mit meinen Werten.)
– Sinn (Ich verstehe, worum es geht.)
– ?

Mit jedem Bedürfnis einher gehen Fähigkeiten, die das Lebewesen nutzt, um mit seiner Umwelt in Interaktion zu treten. Die in diesem Artikel aufgeführte Struktur gibt eine plausible Reihenfolge der Entstehung der hier benannten psychischen Bedürfnisse im Laufe der Evolution wieder. Auch jedes Lebewesen selbst bildet im Laufe seiner individuellen Reifung seine Bedürfnisse voraussichtlich in dieser oder einer sehr ähnlichen Reihenfolge.

Physische wie psychische Grundbedürfnisse können nicht direkt, sondern nur indirekt durch Interaktion mit der grobstofflichen Welt befriedigt werden, in dem wir beispielsweise einen Apfel essen, die Heizung aufdrehen oder ein Gespräch führen. Diese Handlungsweisen stellen Strategien dar, die unser System nutzt, um sich seine Bedürfnisse zu erfüllen.

Im Laufe unseres Lebens erlernen wir eine Vielzahl von Strategien, die dazu geeignet sind, uns unsere (physischen oder psychischen) Bedürfnisse zu befriedigen oder aber zu verhindern, dass wir auf zu vielen dieser Ebenen gleichzeitig großen Mangel empfinden.

Unserem bewussten Verstand werden ungenährte Bedürfnisse als innere „Wünsche“ oder „Befürchtungen“ gewahr, die wir uns selbst, unseren Mitmenschen oder „dem Leben“ gegenüber haben. Diese Wünsche oder Befürchtungen sind die Grundlagen unseres Handeln.

Es gibt immer mehrere Wege, um ein offenes Bedürfnis zu befriedigen. Je mehr wir in unserem Leben bereits erlebt und erfahren haben, desto breiter wird unsere Auswahl an potenten Handlungsmöglichkeiten.

Wünsche, die nicht in angemessener Weise zum Ausdruck gebracht werden, degenerieren zu häßlichen und oft energieraubenden „Erwartungen“. Diese sind nicht selten Anlass für „Ent-Täuschungen“.

Einleitung

Wer sich in heutiger Zeit aus professionellen oder persönlichen Motiven heraus ernsthaft mit menschlichen Gefühlen, Entscheidungen und Beziehungen auseinander setzt, stellt schnell fest, dass die bisher vorliegenden Modelle des Menschen und der Motivationen seines Handelns zwar wissenschaftlich durchaus klug durchdacht sind, jedoch im konkreten Einzelfall (um den es schließlich recht oft ganz konkret geht) leider nur wenig Erklärungskraft entfalten.

Was hilft es Marina, die jüngst von der heimlichen Affäre ihres Mannes erfahren hat, wenn sie nun im Rahmen einer Paarberatung erkennt, dass dieser in seiner Entwicklung niemals ein männliches Vorbild gehabt hatte, an dem er hätte lernen und erfahren können, wie man in einer Liebesbeziehung offen und liebevoll über unerfüllte Sehnsüchte spricht? Das ist gewiss hochinteressant. Aber hilft es ihr?

Was hilft es Alex, der darunter leidet, dass die Frauen in seinem Leben ihm immer wieder den „Ehrenplatz“ der besten männlichen Freundin anbieten, wenn er erfährt, dass sein schwaches Selbstvertrauen ihn für viele Frauen auf sexueller Ebene geradezu zwingend uninteressant macht? Vielleicht ist er darauf sogar schon selbst gekommen. Aber selbst wenn nicht: Wie viele Schritte weiter bringt ihn diese Erkenntnis wohl?

Was hilft es Constanze und Dirk, die über die zunehmende Langeweile in ihrer Partnerschaft klagen, wenn sie nun hören, dass das nach 12 Jahren monogamer Paarung gar nicht ungewöhnlich ist, und dass es vielen Paaren in ihrer Situation ganz ähnlich ergeht? Mit etwas Glück spendet dieser tröstlich gemeinte Hinweis möglicherweise tatsächlich Trost. Aber bietet er den Liebenden einen Ausweg aus ihrer Not?

Ich behaupte: Es hilft ihnen nichts.

Viele therapeutisch, pädagogisch oder psychologisch arbeitende Menschen haben ein wirklich gutes Herz. Sie wollen die Menschen wirklich unterstützen, mit denen sie arbeiten. Alles, was sie sagen und tun, ist wirklich gut gemeint. Warum nur ist es so oft so wenig wirksam?

Ich glaube, ein einfacher Grund hierfür liegt schlicht darin, dass wir trotz einem Jahrhundert intensiver psychologischer Forschung bis heute kein klares Verständnis dafür haben, welche Grundkräfte hinter all unseren Handlungen, unseren Gefühlen und Entscheidungen aktiv und wirksam sind.

Dies ist nicht verwunderlich. Die Kräfte, von denen in diesem Artikel die Rede ist, wirken auf einer Ebene unserer Psyche, die für den bewussten Verstand nicht ohne Weiteres zugänglich ist. Die Rede ist hier von unseren psychischen Bedürfnissen.

Viele von uns erkennen recht leicht die Wünsche und Erwartungen an uns selbst, unsere Mitmenschen oder an „das Leben“. Und natürlich bemerken wir die Gefühle, die wir empfinden, wenn unsere Wünsche oder Erwartungen erfüllt oder leider gerade eben nicht erfüllt sind. Darum glauben wir, das, was wir uns wünschen oder was wir erwarten, wären unsere Bedürfnisse. Jedoch: Das sind sie nicht. Es sind: Unsere Wünsche und Erwartungen. Wollen wir zu unseren Bedürfnissen durchdringen, dann müssen wir tiefer schauen.

Diese verbreitete Verwechslung zwischen unseren Wünschen und Erwartungen mit unseren dahinter liegenden Bedürfnissen, so nachvollziehbar es ist, löst eine Menge Durcheinander und Unklarheit aus. Es verzerrt den Blick auf einander und uns selbst und erzeugt unzählige unnötige Irritationen, Konflikte und Krisen.

Stellen wir uns vor, wir wären in der Lage, Marina eine Perspektive anzubieten, aus der heraus sie versteht, welche Sehnsüchte und Bedürfnisse genau es waren, die ihren Mann zu seinem Tun getrieben hatten. Stellen wir uns darüber hinaus vor, dass es Marina gelingen würde, zu erkennen, dass sie dieselben Sehnsüchte und Bedürfnisse auch in sich trägt. Und stellen wir uns als drittes vor, ihr Mann wäre in der Lage, zu ihr auf eine Weise von sich, seinen Gefühlen, Wünschen und Bedürfnissen zu sprechen, die sie mitfühlen lässt, wie es für ihn war, über Monate ein fadenscheiniges Doppelleben zu führen, in ständiger Angst vor dem entdeckt werden, in ständiger Angst davor, durch sein Tun all das zu verlieren, was er an seiner Frau und an der gemeinsamen Ehe liebt und schätzt… Was könnte dadurch möglich werden für Marina und ihren Mann?

Stellen wir uns vor, es wäre uns möglich, Alex eine Sichtweise an die Hand zu geben, aus der heraus er Schritt für Schritt beginnt, für möglich zu halten, dass das, wonach sich die Frauen in seinem Umfeld bei einem Mann sehnen, in ihm längst angelegt ist. Stellen wir uns vor, er würde erkennen, dass die Schüchternheit und Selbstunsicherheit, die er so oft an sich verurteilt, keine fest installierten Charakterfeature sind sondern lediglich erlernte Strategien im Umgang mit eigenen Bedürfnissen. Und stellen wir uns schließlich vor, wir könnten mit ihm gemeinsam neue Strategien entwickeln, die geeignet sind, dieselben Bedürfnisse in ihm ebenso gut oder sogar besser zu befriedigen und darüber hinaus seine Präsenz und Attraktivität als Mann steigern… Was könnte sich dadurch in Alex‘ Leben ändern?

Stellen wir uns vor, wir könnten zusammen mit Constanze und Dirk herausfinden, welche Bedürfnisse und Wünsche genau es sind, die in ihrer Partnerschaft in den vergangenen Jahren auf der Strecke geblieben sind. Stellen wir uns vor, wir wären in der Lage, ihnen dabei zu helfen, eine gemeinsame Sprache zu entwickeln, in der sie über ihre offenen Wünsche und Bedürfnisse miteinander ebenso konkret wie liebevoll in einen gemeinsamen Austausch treten könnten. Und stellen wir uns schließlich vor, dass diese gemeinsame Sprache Constanze und Dirk dabei hilft, zu erkennen, wie absurd und sinnentleert ihr bisheriger Kampf um Recht und Schuld doch war… Welche Potenziale könnten Constanze und Dirk dadurch in ihrer Partnerschaft und Sexualität entfalten?

Ich behaupte: Das hier könnte eine Perspektive sein, die tatsächlich einen Unterschied macht.

Auch wenn die hier vorgenannten Beispiele sämtlichst dem intimen Feld von Liebe, Partnerschaft und Sexualität entstammen, hat der in diesem Artikel vorgestellte Fokus auf die psychischen Grundbedürfnisse des Menschen weitaus größere Bedeutung.

Ob in Pädagogik, Psychotherapie oder Personalentwicklung: Der Blick auf die wirksamen Bedürfnisse hinter den von uns beobachteten Handlungen, Entscheidungen oder Gefühlen (bei anderen Menschen oder uns selbst) vermittelt uns eine tiefere Ebene des Verstehens, die uns nicht nur unzählige unnötige Konflikte in unserem Alltag erspart, sondern uns darüber hinaus ermöglicht, auf einem soliden Fundament aus Mitgefühl für uns selbst und den anderen eine Vielzahl alter Fragen auf neue, partnerschaftliche Art und Weise zu beantworten.

Auf geht’s:

Räumen wir ein wenig auf und die Sachen dahin, wo sie hin gehören!

Was sind Bedürfnisse?

„Alles Leben ist Leiden, und alles Leiden
hat seine Ursache in den Begierden.“
aus den „vier edlen Wahrheiten“ des Buddhismus

Tief im Unterbewussten verborgen, hinter allem, was wir fühlen oder denken, wollen oder tun, liegen die Gründe für alles Denken und Fühlen, Wollen und Tun: unsere Bedürfnisse.

Ein Bedürfnis, das Wort legt es nahe, ist eine Sache, derer es bedarf. Etwas, das gebraucht wird, um ein gutes und artgerechtes Leben zu führen.

Wir können grob unterscheiden in: Physische und psychische Grundbedürfnisse:

Bedürfnisse des Körpers

Wir alle brauchen zum Überleben dieselben Dinge: Wir brauchen Nahrung und Wasser. Wir brauchen Licht, Luft und Wärme. Wir brauchen Berührung, und neueren Studien zu Folge zählt offensichtlich auch Sex zu unseren rein körperlichen Grundbedürfnissen, die, wenn sie über längere Zeit unerfüllt bleiben, zu Mangelerscheinungen führen.

Die Nahrung (im weiteren Sinne!), die unser Körper benötigt, besteht aus Materie und Energie.

Aber: Nicht alles, was wir essen können, nährt uns. Nicht jede Zusammensetzung des Gasgemisches, das wir Luft nennen, ist unserer Gesundheit und unserem Wachstum dienlich. Nicht jede Art der Berührung oder Aufmerksamkeit tut uns gut.
Was unser Körper braucht, ist nicht Essen oder Luft. Es sind ganz spezifische Moleküle in unserer Nahrung und Atmosphäre, derer es bedarf.

Die Seefahrer vergangener Zeiten erkrankten nicht an Skorbut, weil sie nichts zu essen hatten. Damals waren die Meere noch voller Fisch. Außerdem hatten sie in aller Regel reichlich Dörrfleisch und Zwieback mit an Bord. Zu essen gab es also genug. Trotzdem: Nach Monaten auf See produzierten die Körper der Seeleute Mangelerscheinungen wie Zahnfleischbluten, Erschöpfung und wässrigen Durchfall.

Die Körper der Seefahrer zerfielen bei lebendigem Leib. Von 160 Mann Besatzung verlor Vasco da Gama 100 an den Skorbut. Die meisten von ihnen waren vor Antritt der Reise noch starke, tüchtige und gesunde Männer gewesen. Nur wenige Monate später waren sie tot. Alles, was ihnen gefehlt hatte, war ein Molekül namens Ascorbinsäure, besser bekannt als: Vitamin C.

Unser Körper braucht Vitamine, er braucht Protein, Fett, Zucker und diverse Nährstoffe mehr. Unser Körper braucht Wasserstoffoxid (H2O), und einige der Moleküle aus der Luft.

Wenn wir also Lust bekommen auf den Geschmack von Zitronen oder Johannisbeergelee (oder auch nach Paprika, Spinat oder Broccoli), dann geht es aus Sicht unseres Körpers, der diese Lust durch Ausschüttung neuronaler Botenstoffe produziert, nicht um die Nahrungsmittel in ihrer grobstofflichen Form, sondern um genau jene spezifischen Moleküle, die diese Objekte unserer Umwelt den Erfahrungen unseres Körpers nach in verwertbarer Form enthalten.

Verspürt unser Körper einen Mangel nach einer molekularen Verbindung, dann erzeugt er in uns einen Appetit auf Nahrungsmittel, in denen er diese Substanz vermutet. Worauf genau wir Appetit bekommen, ist davon abhängig, welche Lernerfahrungen unser Körper bislang mit Nahrungsmitteln gemacht hat.

Interessanterweise enthalten die Früchte des peruanischen Camu-Camu-Strauches 20 mal mehr an Vitamin C als schwarze Johannisbeeren und sogar 50 bis 60 mal mehr als eine durchschnittliche Zitrone. Da aber kaum ein Mensch in unserem Teil der Welt jemals das Fleisch einer Camu-Camu-Frucht geschmeckt hat, kennt kaum jemand bei uns die Lust auf eine schöne, saftige Camu-Camu. Anders als in Peru.

Soweit ist alles klar, oder?

Bedürfnisse der Psyche

Ebenso wie unser Körper Nährstoffe braucht, um bestmöglich zu funktionieren, so braucht auch unsere Psyche Nahrung. Und ebenso wie wir zwar den Appetit auf bestimmte Nahrungsmittel bemerken, uns jedoch der dahinter liegenden körperlichen Nährstoffbedürfnisse in aller Regel nicht bewusst sind, so werden wir uns auch unsere psychischen Bedürfnisse zumeist nur indirekt gewahr.

Unser Körper lernt vom Augenblick unserer Geburt an, in welchen Nahrungsmitteln er welche spezifischen Nährstoffe erwarten darf. Ebenso macht auch unsere Psyche Erfahrungen mit der Welt, die uns umgibt. Auch im Bezug auf unsere Psyche lernen wir: „Wenn ich dies tue oder jenes unterlasse, dann bekomme ich…“ Auf diese Weise entwickeln sich in unserer Psyche durch den Prozess von Versuch und Irrtum (bzw. günstigenfalls Erfolg) vielfältige Strategien, die wir erlernen mit dem Ziel der Befriedigung unserer momentanen oder anhaltenden Bedürfnisse.

Unsere psychischen Bedürfnisse sind etwas sehr Grundlegendes. Vergleichbar mit den Nährstoffen, Vitamen und Spurenelementen auf der körperlichen Ebene handelt es sich bei unseren psychischen Bedürfnissen um grundlegende Qualitäten unseres Daseins. Allerdings nährt sich unsere Psyche nicht aus der Sphäre der Materie oder Energie, sondern aus der der Information. Psychische Bedürfnisse sind Informations-Bedürfnisse.

Die Zustände von Sicherheit, Anerkennung oder Verbundenheit (diese und andere hatte bereits Abraham Maslow in dem 1960ern benannt) stellen bei näherer Betrachtung keine real existierenden Fakten dar, sondern sind Interpretationen dessen, was wir über unsere Sinne wahrnehmen.

So kann ich mich sicher fühlen, obwohl ich auf einer Falltür stehe, oder anerkannt, während man sich hinter meinem Rücken über mich das Maul zerreißt.

Und dennoch ist die Information „Ich bin sicher“, „Ich gehöre dazu.“ oder ganz grundsätzlich: „Ich lebe“ von essenzieller Bedeutung für unser System. Je nachdem, ob wir diese Aussagen bejahen oder verneinen, wird dies große Auswirkungen ahben auf unser Denken und Fühlen, Wollen und Tun.

Unsere Wünsche repräsentieren diese Grundbedürfnisse in einer sinnlich konkret erfahrbaren Form. Das, was wir uns wünschen, ist die aktuelle Antwort unserer Psyche auf die aus ihm selbst heraus gestellte Frage: „Wo kriegend wir das jetzt her?“

Wenn wir lernen, zu unterscheiden zwischen unseren Wünschen und den Bedürfnissen dahinter, dann erkennen wir, dass wir das, was uns wirklich fehlt, auf sehr verschiedene Weisen erhalten können. Das bedeutet: Selbst wenn das, was wir uns wünschen, momentan nicht zu bekommen ist, bedeutet das nicht zwingend, dass wir deswegen Mangel oder Leid erleben. Denn es gibt immer mehrere Möglichkeiten, uns unsere Bedürfnisse zu erfüllen, als das Szenario, das uns als erstes oder als lautestes durch den Kopf springt.

Stellen wir uns vor, wir spürten gerade ein Bedürfnis nach liebevoller Nähe und Vertrautheit („Verbundenheit“). Vielleicht entwickeln wir daraus hervor den Wunsch danach, mit unserem Partner zu schlafen. Ebenso könnte aus denselben Bedürfnis heraus auch der Wunsch nach einem intimen Gespräch entstehen. Oder der Wunsch nach Heimkino, Pizza und Wein.

Zumindest die ersten zwei dieser Wünsche kommen allerdings ebenso häufig als Repräsentation des Bedürfnisses nach Intensität zum Einsatz. Und drittes noch häufiger als Ausdruck des Bedürfnisses nach Wohlbefinden. Was dabei rauskommt, ist ist dann allerdings in dem einen wie in dem anderen Fall, mit großer Wahrscheinlichkeit etwas ganz anderes.

An Hand dieses kleinen Beispiels wird leicht deutlich, dass unsere Begegnungen miteinander völlig unterschiedlich verlaufen, je nachdem, ob der Name der uns antreibenden Kraft dahinter wahlweise Intimität oder Intensität ist. Ob es Sicherheit ist, nach der es uns verlangt, oder Freiheit. Ob unser Tun aus dem Bedürfnis nach Anerkennung genährt ist oder aus dem nach Augenhöhe.

Hieraus ergibt sich eine unüberschaubare Anzahl von Möglichkeiten dessen, welche Bedürfnisse sich begegnen, wenn zwei oder mehr Menschen miteinander in Kontakt sind.

Zwischenfazit:

1. Unsere psychischen Bedürfnisse sind Informations-Bedürfnisse. Sie können nicht direkt genährt werden, sondern brauchen dafür konkretes Erleben.
2. Um uns mit den essenziellen Informationen zu versorgen, die wir brauchen, sind wir mit zwei Werkzeugen ausgestattet: Unserem Körper mit seinen Sinnen und Handlungsmöglichkeiten sowie unserer wahrnehmungs- und entscheidungsfähigen Psyche.
3. Unsere Wünsche sind die bestmöglichen Repräsentationen dieser Bedürfnisse in uns. Jeder Wunsch, den wir verpüren, beruht auf der Sehnsucht nach einer essenziellen Information in Form von spezifischem Tun oder Erleben.
4. Je mehr wir in unserem Leben bereits erlebt und erfahren haben, desto breiter und differenzierter wird unser aktiv nutzbarer Fundus an potenziell nützlichen Wünschen, Zielen und Stategien.
5. Je nachdem, welches Bedürfnis im Hintergrund als treibende Kraft aktiv ist, kann zweimal grundsätzlich das gleiche Verhalten durch subtile oder deutliche Veränderungen im ganz konkreten Wie sehr unterschiedliche Folgen haben.
6. Es existieren immer mehrere Möglichkeiten dafür, ein und dasselbe Bedürfnis zu befriedigen. Was wir uns wünschen, ist eine Möglichkeit, unsere Bedürfnisse zu nähren. Allerdings existieren neben dieser zumeist noch mehrere weitere Optionen, die einen ähnlich nützlichen Effekt haben könnten.
7. Gut zu wissen: Wünsche, die gefühlt, aber nicht geäußert werden, degenerieren im Verborgenen nach und nach zu häßlichen und energieraubenden Erwartungen.

Die in diesem Kapitel geschilderten Zusammenhänge sind übrigens eine der zentralen Säulen des weltweit angesehendsten psychologischen Verhandlungsmodells. Das nach dem Ort seines Entstehens benannten Harvard-Modell spricht nicht von Wünschen (Strategien) und Bedürfnissen, sondern von Verhandlungspositionen und den Interessen dahinter. Ansonsten weisen die Autoren mit wiederholtem Nachdruck darauf hin, welch massive Bedeutung das Wissen um die Unterscheidbarkeit dieser Ebenen auf Verlauf und Erfolg einer jedweden Verhandlung hat.

Bedürfnisse: Einige Worte zu Abraham Maslow

Wir dürfen den Menschen nicht nur als das sehen, was er ist,
sondern müssen erkennen, wie er sein kann.
Abraham Harold Maslow (1908 – 1970)

Abraham Maslow war ein zarter, trauriger Junge aus Brooklin, aus dem einer der größten Psychologen des 20. Jahrhunderts hervorging. Die von ihm entwickelte „Bedürfnispyramide“ gilt als einer der zentralen Grundpfeiler unseres modernen psychologischen Menschenbildes.

Die Maslowsche Bedürfnishierarchie

Abraham Maslow kategorisierte und klassifizierte die menschlichen Bedürfnisse in zunächst fünf, später acht Stufen, die nach seinem Verständnis im Laufe der individuellen Entwicklung eines Menschen nacheinander entstehen und in hierarchischer Weise auf das Denken, Fühlen und Handeln des Menschen einwirken.

Je „niedriger“ hierbei das Bedürfnis in der Hierarchie verortet ist, desto „höher“ ist seine Bedeutung bzw. desto größer sind die gesundheitlichen, emotionalen, psychischen und sozialen Folgen eines tatsächlichen oder empfundenen Mangels auf diesen Ebenen.

Maslow benennt folgende acht Stufen menschlicher Bedürfnisse:

1. Physiologische Bedürfnisse
2. Sicherheitsbedürfnisse
3. Soziale Bedürfnisse
4. Individualbedürfnisse
5. Kognitive Bedürfnisse
6. Ästhetische Bedürfnisse
7. Selbstverwirklichung
8. Transzendenz
(1971 posthum veröffentlicht in: „Farther Reaches of Human Nature“)

Ich teile Maslows Sicht auf die Bedeutung unserer Bedürfnisse uneingeschränkt. Jedoch glaube ich, dass es, um diese Erkenntnisebene im Alltag zu nutzen, hilfreich ist, unsere Grundbedürfnisse konkreter zu benennen und vielleicht darüber hinaus einige kleinere Lücken zu schließen.

Unsere psychischen Grundbedürfnisse
Der Versuch einer alltagstauglichen Nomenklatur

Dieser Artikel wäre nicht vollständig ohne eine Antwort auf die Frage: Welches genau sind unsere psychischen Grundbedürfnisse? Bestenfalls beinhaltet diese Antwort natürlich eine nachvollziehbare und in sich geschlossene Struktur.
Dies stellt eine gewisse Herausforderung dar. Schließlich sprechen wir von Triebkräften, die so tief und so alt in uns verankert sind, dass wir diese mit den begrenzten Mitteln unserer Sprache vielleicht niemals wirklich ganz erfassen können. Wir können uns lediglich nähern, indem wir möglichst klare Worte wählen.

Noch dazu haben gerade emotional besetzte, assoziativ wirksame Bezeichnungen (und genau darum handelt es sich hierbei aus nachvollziehbarnen Gründen) interindividuell je nach Persönlichkeit und Erfahrungshintergrund zum Teil recht unterschiedliche Bedeutungen.

Aus diesem Grunde habe ich den von mir gewählten Bezeichnungen unserer Bedürfnisse jeweils mehrere „Synonyme und artverwandte Begriffe“ zur Seite gestellt, die verdeutlichen, mit welcher Art von Bedürfnis (und damit: Wirkkraft) wir es zu tun haben und unter welchen Namen es ebenfalls auftritt.

Die hier aufgeführte Reihenfolge unserer psychischen Grundbedürfnisse stellt das Nacheinander der Entwicklung im Prozess der Evolution bislang dar – sowie auch der Ausbildung dieser Bedürfnisse im Verlauf der individuellen Reifung und Entwicklung.

Klassifiziert werden die Bedürfnisse in der folgenden Matrix in fünf Stufen (0 bis 4).

Der strukturelle Aufbau der Bedürfnismatrix beinhaltet, anders als die bekannten Modelle von Maslow und Graves / Beck, kein hierarchisches Verständnis der Bedeutung unserer Grundbedürfnisse.

Auch in meiner Vorstellung werden die psychischen Bedürfnisse sowie die sich aus diesen heraus ergebenden Fähigkeiten im Laufe unserer individuellen Menschwerdung nacheinander ausgebildet. Jedoch ist die Wertigkeit und Bedeutung jedes einzelnen Bedürfnisses für das Fühlen, Entscheiden und Handeln eines Menschen in einer konkreten Situation in meinen Augen abhängig von einer Reihe verschiedenen Faktoren:

Ich glaube, dass es einen grundlegenden genetischen Faktor gibt, der in die innere Hierarchie unserer Bedürfnisse mit einwirkt.

Darüber hinaus lernen wir bereits von unserer Kindheit an wiederholt bestimmte physische oder emotionale Ressourcen als vorhanden oder begrenzt kennen. Daraus resultierend kommt bestimmten körperlichen oder psychischen Bedürfnissen in unserem System eine geringere oder höhere Wertigkeit zu.

Selbstverständlich hat nicht zuletzt der aktuelle Grad unserer Versorgung mit den „Nährstoffen“, die unsere Psyche braucht, einen erheblichen Einfluss darauf, welches Bedürfnis gerade welche inneren Prozesse in Gang setzt.
Manche Bedürfnisse scheinen in der Erlebnis- und Erfahrenswelt bestimmter Menschen keine Rolle zu spielen. Das bedeutet nicht, dass diese Bedürfnisse nicht angelegt wären. Möglicherweise wurden sie durch die Erlebnisse und Erfahrungen in ihrem Leben lediglich noch nicht aktiviert.

Oder aber sie wurden bereits früh in der Entwicklung als persistent fragil oder kategorisch unerfüllbar erlebt. In diesem Fall entwickelt der Mensch (oder das Tier) nicht selten energieaufwändige, jedoch nur selten nützliche Kompensationsstrategien. Wer einen Hunger spürt, den er nicht kennt, wird versuchen, ihn mit den Mitteln zu stillen, die er kennt.

Übersicht der psychischen Grundbedürfnisse des Menschen

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Was die Anderen sagen:

Wikipedia: Bedürfnis

spektrum.de: Lexikon der Psychologie: Bedürfnis

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